Rezensionen
für Bücher - das Magazin zum Lesen

 
   

In den ersten sieben Ausgaben der Zeitschrift "Bücher" standen meine sieben Beiträge zur Kolumne "Überschätzte Bücher": Polemiken auf Bestseller (gerne Schullektüren). Hier die unredigierten Fassungen.

Überschätzte Bücher, Bücher 6/2004, Essen, September 2004.

Bertolt Brecht: Der gute Mensch von Sezuan

Eins muss man Brecht lassen, bei allen kleinbürgerlichen Erziehungsabsichten, untertänigen Stalin-Hymnen und maßgeschneiderten Proletarierhemden: Er hatte Sinn für Humor. Der Gute Mensch von Sezuan ist nämlich schon nach elf Seiten zu Ende.
Drei chinesische Götter besuchen Sezuan und haben viel vor: "Die Welt kann bleiben, wie sie ist, wenn genügend gute Menschen gefunden werden, die ein menschenwürdiges Dasein leben können." Der Wasserverkäufer Wang erkennt die Götter und sucht ihnen eine Herberge. Die Pensionen lehnen ab. Da fällt ihm die ehrbare Dirne Shen Te ein. Die erwartet einen Freier, ist auf ihr Arbeitszimmer angewiesen, mault - trotzdem gewährt sie den Göttern Unterschlupf. Der gute Mensch ist gefunden, die Götter danken artig, sie finden Shen Tes Hurenjob völlig in Ordnung, und sie geben ihr sogar Geld, ohne Bedingungen zu stellen. Shen Te hat ihre Güte bewiesen und ihre Miete verdient. Alle Ausgangskonflikte sind gelöst. Vorhang zu.
Warum geht es weiter? Warum eröffnet sie mit dem Grundkapital einen Tabakladen, warum verschenkt sie es nicht? Brecht braucht dieses Geschäft, denn Shen Te soll wirtschaften, um sich in Schuld zu verstricken. Prompt wird sie angepumpt, von Gläubigern bedrängt, und zwischen lauter nichtsoguten Menschen droht sie zu scheitern. In der Not verkleidet sie sich als ihr fieser Vetter Shui Ta. So ein böser Trick darf der guten Shen Te nicht selbst einfallen - daher zaubert Brecht für dieses Mal eine Einflüsterin herbei, damit die Idee halt irgendwie in der Luft lag. Der Große Brecht darf solche Kaninchen aus dem Zylinder holen.
Er benutzt ein uraltes Theaterstadl-Element: die Hosenrolle. Shen Te zieht sich hinter der Bühne immer wieder um (vermutlich in einer Telefonzelle) und kommt zurück als durchgreifender Shui Ta. Es fehlt nur das gelbe "S" auf der blauen Maoistenjacke. Eine krachlederne Jekyll-&-Hyde-Variante - doch niemand in Sezuan schöpft Verdacht. Für Chinesen sehen die anderen Chinesen ja auch alle gleich aus.
Brecht versetzte das Märchen ins exotische China und streute konfuse Song-Einlagen drüber, damit es als Verfremdungseffekt durchgeht. Aber die Pose des epischen Theaters, dass die Figuren sich selbst erklären und scheinbar die Handlung brechen, hilft nichts: Die Anlage dieses Stücks ist die eines Bauernschwanks, mit herziger Lovestory, Hochzeitsbankett und 'turbulenter Verwechslungskomödie'. Willy Millowitsch könnte eintreten und würde kaum auffallen. Das Tabakgeschäft wirkt wie ein drolliger Kaufmannsladen, die kindlichen Dialoge passen dazu, und all diese Chinesen sind eigentlich rotbäckige Hummel-Figuren. Shen Te trällert ihr Gutsein ins Publikum wie Schweinchen Babe in den Schafstall.
Zum Schluss tritt ein Zeigefingerhochhalter vor den Vorhang und bringt die Werktätigen zum Grübeln: "Soll es ein andrer Mensch sein? Oder eine andre Welt?" Beide Fragen sind müßig, da das Drama längst entschärft war. Warum die anderen Menschen um Shen Te nicht genauso gut oder gespalten waren, bleibt nicht "offen", sondern völlig beliebig.

Magazin Bücher 6/2004
▲ Magazin Bücher 6/2004

aus: Bücher 6/2004
▲ aus: Bücher 6/2004

Bertolt Brecht: 'Der gute Mensch von Sezuan'
▲ Bertolt Brecht: Der gute Mensch von Sezuan (UA 1943)