Pressestimmen
zu Vestalin

 

Norbert Stöbe in seinem Blog, 19. Oktober 2024:

Dieser Science-Fiction-Horror-Splatter-Roman ist kein Buch zum Liebhaben, sondern krasser Lesestoff, der dem Leser einiges abverlangt. Jensen jagt durch die Genres, um sie zu sprengen. Die kulturellen Referenzen reichen von der indischen Mythologie, über den titelgebenden römischen Vesta-Kult, den faustischen Homunkulus und Mary Shelleys Frankenstein bis zu den modernen Phänomenen des Social-Media-Zirkus. Die naheliegende Frage, wie fühlt sich eigentlich Dehm in Enyas Körper, wird ausgeklammert, und auch die übrigen Personen bleiben in ihrem Tun und Lassen seltsam fremd, so wie sich beim Blick durchs Mikroskop der Gegenstand der Betrachtung quasi verflüchtigt. (...) Satire ist das nur bedingt. Mit präziser, quasi sezierender und immer wieder überraschender Sprache wirft Jensen teils sehr unangenehme Fragen auf, die ins Herz (beziehungsweise Hirn) einer verunsicherten Moderne zielen. Ein perfekt komponierter Roman und eine provozierende Leseerfahrung.

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Frank Schorneck auf Culturmag.de, 1.11.2024:

Promisker Prometheus - Marcus Jensens neuer Roman mäandert zwischen Ethik und Fetisch
Marcus Jensens vierter Roman ist keine gefällige Lektüre, sondern ein stilistischer Bastard zwischen Trash und philosophischem Traktat – eine sehr zeitgemäße Fortschreibung des Prometheus-Mythos für das 21. Jahrhundert. Auf der einen Seite scheut er in den derben Schilderungen der Operation vor Splatter-Elementen nicht zurück und der Cunnilingus zum Beginn des Buches ist mitnichten die einzige saftige Sex-Szene. Dass Kat mit Niklas zusammenkommt und die 22-jährige untote Dehm-Enya zu Opa/Oma macht, ist dabei nur eine von vielen Volten, die Jensen mit seinem Roman schlägt. Auf der anderen Seite kratzt die wilde Groteske an moral-ethischen Fragen in einer Zeit, in der die Möglichkeiten, die Forschung und Wissenschaft bieten, nahezu grenzenlos scheinen. Bei wem liegen im Falle einer Hirntransplantation die Persönlichkeitsrechte? Die Grenzen zwischen Schöpfer und Schöpfung verwischen. Hat Dehms Gehirn die vollständige Kontrolle über den neuen Körper oder zeigen sich eventuell Charakterzüge, die zu Enya gehörten? Nicht ohne Hintergedanken erinnert der Name „Dehm“ lautmalerisch an den Demiurg, der Menschen aus Lehm formte. Ist Abseits der Hirnfunktionen in seiner Schöpfung so etwas wie eine Seele auszumachen? Auch außerhalb des Instituts entbrennt ein Kampf um die Deutung dieses neuen Wesens, das so ungleich schöner ist als Frankensteins Kreatur. (...) Wie erlebt, wie „nutzt“ der 67-jährige Dehm seinen neuen, überaus attraktiven weiblichen Körper? Jensen spielt mit vielen weiteren mythologischen und literarischen Elementen, so tragen z.B. die OP-Roboter die Namen Nanda und Schridaman und verweisen auf Thomas Manns Erzählung „Die vertauschten Köpfe“ – eine Erzählung, die sehr ähnliche Konsequenzen aus einem Rollen- bzw. Kopftausch ableitet. Das indische Varanasi, Pilgerort für Tod und Wiedergeburt, ist ein Sehnsuchtsort Dehms (...). So ist der Roman gespickt mit popkulturellen Querverweisen und selbstreferentiell lässt Jensen dem „Indianer“ aus seinen Romanen Red Rain und Schweine hier wieder eine Rolle zukommen. (...) Allerdings vernachlässigt der Roman bei aller Motivfülle die Charakterzeichnung einer seiner wichtigsten Figuren: Kat, die ein doppeltes (oder dreifaches) Spiel führt, ist eine treibende und getriebene Kraft in der Geschichte. Ist sie möglicherweise die titelgebende „Vestalin“, die Priesterin, die dafür sorgt, dass das Feuer im Tempel niemals erlischt? (...) Abgesehen von seinen sexuellen Vorzügen ist Dehm von Beginn an ein manipulatives, unsympathisches, machthungriges Schwein. Kat ist sich dessen bewusst und lässt sich dennoch vor seinen Karren spannen. Selbst für die Rache, die sie letztlich nimmt, sind ihre Motive ausgesprochen blass. Dem enormen Drive der Story tut diese Schwäche allerdings keinen Abbruch. Und wenn man Fotos sieht, auf denen Elon Musk – eine mindestens ebenso widerliche Gestalt wie Dehm – den Prototypen eines Roboters präsentiert, der Mikrochips ins Gehirne verpflanzen und Schnittstellen zwischen Hirn und Smartphone ermöglichen soll, wird einem klar, dass Jensen bei aller vordergründigen Abgedrehtheit seines Szenarios nur eine winzige Drehung der Schraube macht, und so eine Zukunft zeigt, die wahrscheinlich näher ist, als man glauben möchte.

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Gerrit Althüser in Am Erker 88, Münster, April 2025:

(...) Auch die Presse, Ethiker und Juristen stürzen sich auf den Fall. Wie auch immer sie sich dazu verhalten, allen ist klar, dass eine neue Zeit angebrochen ist. Jensen strickt seine Geschichte also um den Topos der Hirntransplantation, der aus diversen Horrorfilmen, vor allem natürlich den Frankensteinfilmen, und vereinzelten Komödien bekannt ist und zuletzt in Giorgos Lanthimos‘ Poor Things (2023) im Zentrum stand. Wie Poor Things, aber auf andere Weise, erweitert Vestalin das Motiv um eine Gender-Komponente und spielt auf aktuelle Diskurse zum Thema an. Männlichem und Weiblichem, die sich im neuen Mischwesen aus Dehm und Enya verbinden, entsprechen die Gegensätze von Geist und Körper, Subjekt und Objekt, Innen und Außen. Es sind die klassischen Klischees, die abgerufen, aber infrage gestellt und gebrochen werden, auch Dehm selbst (bzw. sein Gehirn) muss das im Laufe der Handlung erfahren. (...) Wie seine Figuren operiert auch der Roman selbst gekonnt mit Versatzstücken, vermengt Passagen scheinbar trivialer Genres wie Horror, Sci-Fi oder erotische Literatur mit mythologischen Elementen, philosophischen Überlegungen und Gesellschaftssatire und nutzt Anspielungen von Thomas Mann bis Procol Harum motivisch. Die expliziten Sexszenen liegen durch das Gender-Thema nahe, tragen aber auch viel zur Wirkung des Buchs bei; noch stärker gelingt es, ein Gefühl der Unheimlichkeit auf die Lesenden zu übertragen. Insgesamt ist der Roman nicht nur anregend, sondern gut geschrieben, motivreich und sogar spannend. Als einziger größerer Kritikpunkt ist anzumerken, dass man sich mehr Informationen über Motive und Gedanken der Figuren gewünscht hätte. Vor allem betrifft das Kat, aber auch Dehm, von dem man gern wüsste, wie er sich im neuen Körper fühlt. Das mag hier mit Absicht unerwähnt geblieben sein, beim Lesen fehlt es dennoch.

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